Chinesische Medizin in 50 Sätzen (in wissenschaftlicher Schreibweise)
Ursprung, Entwicklung und Verbreitung der Chinesischen Medizin
Chinesische Medizin (CM) ist ein traditionelles, medizinisches System mit Ursprung in China. Das bekannteste [3:74] Grundlagenwerk der CM, Huáng-Dì Nèi-Jīng 黄帝 内经 (chin: Des Gelben Kaisers Innerer Klassiker)[4], kurz Nèi Jīng (chin: Innerer Klassiker), wurde um ca. 1000 – 300 v. u. Z. verfasst. Der im Nèi Jīng beschriebene Wissensschatz wurde über zwei Jahrtausende durch die Einflüsse verschiedener Dynastien und Schulen verfeinert und bildet noch heute weitgehend die klinische Grundlage. In China arbeiten gemäss WHO rund 525‘000 CM-Ärzte [5:10]. In Europa wird die Zahl der praktizierenden Akupunkteure auf 15‘000 (ebd.12) geschätzt, in der Schweiz praktizieren über 2000 Therapeuten und Ärzte Akupunktur und Chinesische Arzneitherapie [6]. Akupunktur wird gegenwärtig als das weltweit bedeutendste nicht-medikamentöse Verfahren zur Behandlung von Schmerzen betrachtet [7: S.8].
Denkmodelle der CM
Die im Nèi-Jīng [4] beschriebenen grundlegenden Denkmodelle dienen dazu, naturphilosophisches Verständnis und empirische Erkenntnisse logisch und strategisch so zu verknüpfen, dass sie klinisch optimal verwertet werden können. Im Sù-Wèn 素問, dem ersten Teil des Nèi Jīng werden neben Physiologie, Pathologie, Ätiologie, Diagnostik und Therapie auch kosmologische, ökologische, soziale, emotionale und habituelle Lebensumstände im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen aufgezeigt. Mikrokosmos und Makrokosmos, sowie deren Zusammenwirken, werden gleichermassen miteinbezogen [ebd.Kap.5], wobei der Mensch als in Resonanz zur Natur lebendes Wesen verstanden wird [ebd.Kap.2]. In der fundierten Weltansicht der alten Chinesen werden das Universum und der menschliche Körper als eine organische Einheit betrachtet [8].
Therapeutische Methoden der CM
Yīn 阴 und Yáng 阳 [zwei synergistisch-dynamische, allgegenwärtige Polaritäten] werden in der CM als Grundlage aller Dinge, Mutter jeden Wandels und von Leben und Tod betrachtet. Um eine Krankheit zu behandeln, muss die Wurzel der Disharmonie zwischen Yīn und Yáng gefunden werden [4:Kap.3/5], ebenso sollen der geistige Aspekt Shén 神und die Lebensenergie Qì 气 frei und sanft zirkulieren können (ebd.Kap.1). Das Qì fliesst in den Jīng-Lùo 经络, Leitbahnen und wird durch Zhēn-Jiǔ 針灸, Akupunktur energetisch stimuliert (ebd.Kap.26). Neben der Akupunktur ist vor allem Zhōng-Yào 中藥, Chinesische Arzneitherapie von grosser Bedeutung [9:375]. Die Chinesische Arzneitherapie unterscheidet sich von der Allopathie dadurch, dass für jeden Patienten individuell auf dessen Muster angepasste Formeln aus pflanzlichen, mineralischen und tierischen Einzelsubstanzen komponiert werden [10:xxv]. Weitere Behandlungsmethoden der CM sind: Tuī-Ná 推拿, therapeutische Massage [11], Guā-Shā 刮痧, Stimulation durch Schaben der Haut [12], Bá-Guàn 拔罐, Stimulation durch Saugwirkung vakuumisierter Gläser [13], Aì-Jiǔ 艾灸 Moxibustion, Erwärmen der Akupunkte durch Abglühen von Artemisiakraut [14], und schliesslich die Beratung, z. B. bezüglich Qì-Gōng 氣功 (Qì-Arbeit) [15, 16], Lebensstil [4:z. B.Kap.1], Ernährung [17] und Fēng-Shŭi 风水 (Umgebungsgestaltung) [18, 19].
Begriffe Zhēn-Jiǔ 針灸 und Akupunktur
Der Begriff Akupunktur setzt sich aus dem lateinischen acus für Nadel, und pungere für Stechen zusammen. Der in der chinesischen Sprache verwendete Begriff Zhēn-Jiǔ setzt sich aus den Wörtern Zhēn für Nadel und Jiŭ für Moxibustion zusammen. Das Schriftzeichen für 針 Zhēn beinhaltet 金 (Gold/Metall) und 十 (10/perfekt). Das Schriftzeichen 灸 Jiŭ enthält 久 (lange Zeit/spät wachsen) und 火 (Feuer) [20].
Akupunktur und klassische Werke der CM
Bereits im Sù-Wèn 素問 [4] wird Akupunktur beschrieben (ebd.:Kap.21 bis 64), doch die diesbezüglichen Ausführungen im Líng Shū, dem zweiten Teil des Nèi Jīng sind ausführlicher und weniger philosophisch, dafür klinischer und anwendungsbezogener [21:2ff]. Gemäss Líng Shū (22:Kap.1) hielt Huáng Qì „…die Verwendung kleiner Nadeln für notwendig, um den Fluss des Qì in den Leitbahnen zu beeinflussen…“.
Akupunktur und Leitbahnen im Verständnis der CM
Akupunktur bietet Zugang zum Jīng-Lùo 经络, Leitbahnsystem, wo entsprechend der Musterdiagnose Qì-Zhì 气滞, Blockaden aufgelöst bzw. 实 Shí-Zhèng 证, Füllezustände sediert oder Qì-Xū 气虚, Leerezustände tonisiert [22:Kap.1/9] werden. Das Jīng-Lùo entspricht einem weit verzweigten Netzwerk im Organismus, welches in astrologischer und geologischer Korrespondenz die Zirkulation des Qì unterstützt [8]. 365 klassische Akupunkte sind auf zwölf longitudinalen Hauptleitbahnen verteilt, welche mit weiteren transversalen, muskulotendinalen und subkutanen Leitbahnsystemen den gesamten Organismus erschliessen (ebd.Kap.1). Darüber hinaus werden 52 weitere Akupunkte auf den 奇经 八脉 Qí-Jīng Bā-Mài, ausserordentlichen Leitbahnen und 68 Extrapunkten ausserhalb der Jīng-Lùo, Leitbahnen [9:271-286] definiert. Im Laufe des letzten Jahrhunderts gewannen ausserdem Mikrosysteme an Bedeutung. So werden beispielsweise 139 Akupunkte am Ohr (ebd.1077–1092) definiert, 43 Akupunkte an der Hand (ebd.1118ff./1128), 57 am Fuss (ebd.1123f./1130), 89 in Gesicht, Nase und im Mund (ebd.1131/1133f./1142f), sowie rund 100 Punkte bzw. Punktzonen am Schädel [23:53/65/85]. Ausserdem werden Ā-Shì Xué 阿是 穴, druckdolente Punkte an beliebigen Lokalitäten bei Triggerpunkten, an Muskeln, Gelenken, Sehnen und Bändern definiert.
Quellen
1 Hui KK, Nixon EE, Vangel MG, Liu J, Marina O, Napadow V, Hodge SM, Rosen BR, Makris N, Kennedy DN: Characterization of the „deqi“ response in acupuncture. BMC complementary and alternative medicine 2007, 7:33.
2. Leung P-C: Chinesische Medizin: alte Heilkunst und moderne Wissenschaft, 1. Aufl. edn. München [u. a.]: Elsevier; 2006.
3. Unschuld PU: Medizin in China : eine Ideengeschichte. München: Beck; 1980.
4. Sù Wèn 素 問: Huáng-Dì Nèi-Jīng Sù-Wèn 黄 帝 内 经 素 問. In. China; ca. 1030 v. – 24 n. u. Z.
5. WHO: WHO traditional medicine strategy 2002-2005, 12906374, 2002438541. In. Geneva: World Health Organization; 2002: viii, 61 p.
6. Complemedis AG TH: Anonymisierter Auszug der Kundendatenbank der Complemedis AG, editiert von Hochstrasser R; 2012.
7. Unschuld PU: Chinesische Medizin, Orig.-Ausg edn. München: Beck; 1997.
8. Yang ES, Li PW, Nilius B, Li G: Ancient Chinese medicine and mechanistic evidence of acupuncture physiology. Pflugers Archiv : European journal of physiology 2011, 462(5):645-653.
9. Focks C, Blunck A: Leitfaden traditionelle chinesische Medizin : Schwerpunkt Akupunktur, 2., [vollst. überarb.] Aufl. edn. München [u. a.]: Urban & Fischer; 2000.
10. Bensky D, Clavey S, Stöger E: Chinese herbal medicine : materia medica, 3rd edn. Seattle, WA: Eastland Press; 2004.
11. Han C, Rintelen H: Leitfaden Tuina : die manuellen Techniken in der TCM, 2. Aufl., [Nachdr.] edn. München [u. a.]: Urban & Fischer; 2008.
12. Nielsen A: Gua Sha : eine traditionelle Technik für die moderne Medizin. Kötzting: Verl. für Ganzheitliche Medizin Wühr; 2000.
13. Chirali IZ: Traditional Chinese medicine : cupping therapy, 2nd edn. Edinburgh ; New York: Churchill Livingstone/Elsevier; 2007.
14. Höting H: Die Moxa-Therapie : Wärmepunktur – eine klassische chinesische Heilmethode, 6. Aufl. edn. Stuttgart: TRIAS; 2011.
15. Johnson JA, Stewart JM, Howell MH: Chinese medical Qigong therapy : a comprehensive clinical guide. Pacific Grove, Calif.: International Institute of Medical Qigong; 2000.
16. Wei Y, Deng Z: Medizinisches Qigong : praktisches Handbuch der chinesischen Atem- und Bewegungsübungen. Kötzting/Bayer. Wald: Verl. für Ganzheitliche Medizin Wühr; 1996.
17. Zalokar UvB, Fendrich B, Hass K, Kamb P, Rüegg E, SBO-TCM: Praxisbuch Nahrungsmittel und Chinesische Medizin: Wirkungsbeschreibungen und Indikationen der im Westen gebräuchlichen Lebensmittel. Schiedlberg: BACOPA Verl.; 2009.
18. Sang L, Luk H: The principles of feng shui. Book one. Monterey Park, Calif.: American Feng Shui Institute; 1994.
19. Kubny M: Feng Shui: die Struktur der Welt : Geschichte, Philosophie und Konzepte der traditionellen chinesischen Raumpsychologie. Klein Jasedow: Drachen Verl.; 2008.
20. Chinese-English Dictionary [www.mdbg.net]
21. Schmidt MWGA: Übersetzung des Lingshu: Die Wundersame Türangel im Klassiker des Gelben Kaisers zur Inneren Medizin, vol. 2: vicademica.verlag berlin; 2003.
22. Líng Shū 灵 枢: Yellow Emperor’s Inner Canon. Divine Pivot [Huáng-Dì Nèi-Jīng Líng Shū 黄 帝 内 经 灵 枢]. In.; approx. 1030 B. C. E. – 24 A. C. E.
23. Yamamoto MD, Ph. D. Toshikatsu: Yamamoto Neue Schädelakupunktur: Verlag für Ganzheitliche Medizin Dr. Erich Wühr GmbH, Kötzing/Bayer Wald; 2005.