Warum nicht einfach immer (Dan Zhi) Xiao Yao San?

von Dr. Raphael Hochstrasser

Die Mengenstatistik der in Europa und den USA verordneten TCM-Arzneimittel wird schon seit Jahren von einer Formel angeführt: Dan Zhi Xiao Yao San.

Warum Leber-Qi-Stagnation so modern-populär ist
Die Leber ist dafür zuständig, das Qi harmonisch und gleichmässig im Organismus zu verteilen, gem. Dr. im Skoien die ‚Fliessen & Ausbreiten-Funktion’, kurz ‚F&A-Fnkt’ genannt. Stagnation entsteht nicht nur bei unzureichender F&A-Fntk., sondern auch durch den relativen Überschuss von Qi. Im Falle der Wandlungsphase Holz bedeutet das: Überaktivität kann nicht in Bewegung umgesetzt werden. Typischerweise sitzt man bzw. mensch vor dem Computer, im Auto, in der Konferenz oder bei anderen Yang-Tätigkeiten, wofür unser vegetatives Nervensystem den Körper auf physische Aktivität vorbereitet; auch sympathische Aktivierung genannt. Doch der sympathische Modus dient der kurzfristigen Steigerung körperlicher Leistungen zu Jagd- und Fluchtzwecken. Und wenn das daraus zur Verfügung gestellte physische Aktionspotential nicht ausgeführt wird entsteht ein Energiestau, der in der CM dem Funktionskreis der Leber zugeordnet wird. Kommt hinzu, dass viele wichtige Einrichtungen und Tätigkeiten unserer Gesellschaft auch in sich selbst schon eine yang-ige und holzige Natur aufweisen: Action im Fernseher löst den Jagd- und Fluchtmodus aus, das intensive Starren auf Bildschirme (Yang-Tätigkeit der Augen) „saugt“ Yang nach oben, Kommunikation läuft über das Schilddrüsenchakra (Wandlunsphase Holz), Autofahren ist Jagd- und Flucht des modernen Menschen per se, usw. Leber-Qi-Stagnation vorprogrammiert! Der hinter dem Steuer zappelnde Büromensch im Verkehrsstau als Sinnbild in Superlative davon.

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Pathomechanismus

Die Pathologie bei Leber-Qi-Stagnation (LQS) bzw. verminderter F&A-Funktion führt zu…
…(1) ungleichmässigem Qi-Fluss und Qi-Blockade im mittleren Jiao, welche sich…
…(2) oft schubweise…
…(3) nach oben entlädt. Zusätzlich…
…fehlt (4) dieses Qi in der Peripherie und in den anderen Systemen.

Diese Wirkweisen (1), (2), (3) und (4) können natürlich jeweilige Symptome zur Folge haben…

Symptome

Der ungleichmässige Qi-Fluss im mittleren Jiao (1) entsteht, weil die Leber zu viel Qi benötigt und die Milz dabei vernachlässigt (4) wird, eine Disharmonie über den Wu-Xing Kontrollzyklus. Weil die physiologische Qi-Richtung der Milz nach unten geht und ihr die Kraft für Tranport und Transformation fehlt, führt diese Unterversorgung zu weichem, wässrigem oder bleistiftartigem Stuhl, sowie im Extremfall zu Durchfall. Liegt die Betonung des Musters eher beim diskontinuierlichen Qi-Fluss (1), kann sich dies per Darmperistaltik mit schafskotartigem Stuhl oder Tendenz zu Obstipation äussern. Die alternierende Defäkation (schöne Terminologie,  gell?) ist ein sehr typisches und zuverlässiges Zeichen der Disharmonie zwischen Milz und Leber.

*In der CM entspricht „die Milz“ der nahrungstransformierenden Instanz, also etwa dem, als was modern gesehen der Dünndarm verrichtet.

Ein ebenso typisches Zeichen sind hypochondriale Distensionen, welche sich in Form eines eher diffusen Druckgefühls (aufgrund der generellen Fülle in der Leber) oder wandernden und örtlich begrenzten Spannungsgefühlen äussern. Ein bei LQS überaus häufig auftretendes Symptom, dass allerdings von vielen Patienten erst bemerkt wird, wenn sie die Wahrnehmung bewusst darauf lenken.

Die schubartigen (2) Entladungen (3) von gestautem Le-Qi gehen aber vor allem nach oben ab. Das aufsteigende Le-Yang führt so z. B. zu….

…. Schwindel, Yang-Kopfschmerzen und Migräne. Denken wir daran, dass Yang eigentlich = Qi + Hitze ist, verstehen wir auch, wieso Hitzköpfe entstehen. Unruhiges Shen, Reizbarkeit, Stimmungsschwankungen inkl. PMS sind alles weitere Folgen von aufsteigendem Le-Yang. Auch sekundäre Stagnationen im oberen Jiao. Typischerweise drückt sie sich dann durch torokale Beklemmungsgefühle (Qi & Hitze bedrohen das Herz und das Zhong-Qi) oder Blockaden-/Pfirsichkerngefühl (Globus hystericus) im Hals aus. Ein Beispiel: Der Büromensch geht am Abend joggen und befreit dabei das in der Leber angestaute Qi, welches sich nach oben ins Herz entlädt und zu einem Infarkt führt.

Kalte Glieder oder Extremitäten (4): Leider werden Kälte-Symptome von Grob-Diagnostikern oft einfach in die Schublade Nieren-Yang-Mangel versorgt. Kälte, die aber lediglich in der extremen Periphärie auftritt, indiziert etwas anderes: Wenn die Leber das Qi hamstert und nicht gleichmässig und sanft verteilt, ist normalerweise die im gleichen Stockwerk arbeitende Milz am meisten betroffen (2). Zu wenig Qi (notabene Qi, nicht Yang, denn Qi wärmt, Yang heizt) oder solches, dass nicht gut verteilt wird ist dann Schuld an kalten Fingerchen und Zehen.

Übrigens neigen die Symptome bei LQS häufig auch zu einer Wind-Charakteristik, sie sind also wechselhaft, wandernd, schleichend, einseitig, etc.

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Arzneimittel

Die Grundformel Xiao Yao San besteht aus:
Chai Hu
Bai Shao Yao
Bai Zhu
Fu Ling

Dan Zhi Xiao Yao San besteht aus:
Xiao Yan San
+ Mu Dan Pi
+ Zhi Zi

Xiao Yan San besteht also zum grossen Teil aus Komponenten, welche sich nicht durch eng-spezifische, sondern eher durch breitgefächerte, komplexe Wirkweisen auszeichnen. Welche das sind, kann man in jedem Kräuterbüchli nachlesen. Drum werden sie hier etwas alternativ vorgestellt:

Chai Hu ist die Wurzel eines sehr trockenen Krautes, wie es der Name verrät: Der Reisig/das Anzündholz (Chai) der Familie Hu oder der Barbaren (beides=Hu). Es sollte nicht unterschätzt werdenund alleine wäre es zu trocknend. Daher muss es mit einem befeuchtenden bzw. Yin-schützenden Kraut ausgeglichen werden. Chai Hu ist die Yang-Komponente dieser Rezeptur, idealerweise in Gesellschaft seiner zwei perfekt ergänzenden Schwestern (Yin): Bai Shao Yao und Dang Gui. Bai Shao Yao ist das beste Kraut, um das Le-Yin zu schützen und befeuchten. Die andere Schwester, Dang Gui, ist sogar botanisch mit Chai Hu verwandt, beide gehören zur Familie der Dolderblüter. Auch andere Vertreter dieser Familie, wie z. B. Chuan Xiong und Xiao Hui Xiang sind äusserst nützliche Mittel der TCM, da sie jeweils mehrere wichtige Wirkweisen in sich vereinen: Entsprechend ihrer Erscheinung (Dolderblüter) wirken sie nach oben und aussen öffnend, sind aromatisch und Qi-verteilend was wir wiederum vom all überbetörenden Geschmack in den Rezepturen kennen.

Bai Shao Yao schützt also das Yin und Blut vor der trockenen Qualität von Chai Hu. Darüber hinaus ist es das einzige Mittel der CM, welches explizit das Ying-Qi nährt. Ying-Qi ist kein Äquivalent des Xue, sondern eben die energetisch-funktionelle Form davon. Genauso kann Bai Shao Yao nicht wirklich (stofllich) Blut nähren, aber als Alleskönner der Leber-Funktionen die Le-Blut- & Yin-Funktionen stärken.

Bai Zhu und Fu Ling sind die typischen Kandidaten, wenn es darum geht die Mitte (Transformieren&Transportieren-Funktion) zu unterstützen. Beide tonisieren und wandeln Feuchte um, Bai Zhu tonisiert mehr, Fu Ling wandelt mehr Feuchte um. (In Punkten ausgedrückt: Bai Zhu tonisiert mit 3/5, wandelt Feuchte 2/5, Fu Ling tonisiert mit 2/5, wandelt Feuchte mit 3/5.) Nebenbei verbessern die beiden natürlich auch die Resorption der Arznei, aber ihre hauptsächliche Aufgabe in dieser Formel liegt bei der Stärkung der Mitte (Ma/Mi), um den übermächtigen Gegenpol (Le-Qi) etwas auszugleichen und die fehlende ERDung (vegetativ=parasympatischer Aspekt) zu verbessern. Die kann natürlich durch entsprechende Massnahmen im Alltag noch weiter unterstützt werden. Z. B. durch Arbeit im Garten/Acker, Barfüsseln, Langsamheit, etc.

Dang Gui wird häufig in Formeln verwendet, bei denen es zwar nicht primär, aber sekundär darum geht, das Xue zu stärken. Manchmal mit der Strategie, allfälligen Nebenwirkungen (etwa Austrocknung durch Chai Hu) vorzubeugen, meistens aber vor allem, um die Qi-Produktion zu erhöhen (Xue nährt das Qi). Es ist ausserdem so beliebt, weil die Gefahr eine Blut-Stase auszulösen sehr gering ist, da Dang Gui gleichermassen sanft Blut nährt, wie auch breitbandig bewegt bzw. verteilt. Und natürlich passt es auch ideal zu Xiao Yao San, weil es seine Wirkung hauptsächlich im  Funktionskreis der Leber entfaltet.

Mu Dan Pi ist gewissermassen ein sanfter und zuverlässiger Chiller fürs UJ, va für die Le-Blut-Funktionen.

Zhi Zi chillt und verteilt Qi in 3 Jiaos gleichzeitig mit genereller abwärts-Bewegung. Ein sehr Potentes Mittel mit einem breiten sedierenden und verteilendem Wirkspektrum. Wenn die reine Sedierung möglich ist, und man statt der ganzen Formel nur ein Mittel einsetzen könnte, wäre es wohl dieses.

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Die Titel-Frage war natürlich eher als Inhaltsangabe, denn als wirkliche Frage gedacht. Und die Antwort darauf ist klar. Falls doch nicht: Immer einfach Dan Zhi Xiao Yao San würde vermutlich gar nicht mal so schlecht funktionieren. So wie wenn man einfach jedem Patienten rät, sich regelmässig zu bewegen (Le/F&A) und sich klar, frisch und bekömmlich zu ernähren (Mitte/T&T). Bei den meisten Patienten würde dies wohl zu einer mässigen bis sehr guten Verbesserung ihres Zustandes führen. Mit einer differenzierten und individuell spezifizierten CM-Therapie wird die Quote und Amplitude allerdings wesentlich höher liegen.